Die unglaubliche Flucht einer jungen Frau
Jährlich fliehen über 3000 Menschen aus Afghanistan in die Schweiz, so viele wie aus keinem anderen Land sonst. Wir nehmen Sie mit auf eine Reise durch die bewegte Geschichte von Morsal.
Eine Reportage von Marco Probst und Basil Bernard, Bern

Flucht
Die Flucht aus Afghanistan ist für viele Menschen eine Odyssee, eine lebensgefährliche Reise durch Länder und Grenzen, die oft Tage oder Wochen dauert. Auch für die junge Afghanin, Morsal, war es die einzige Möglichkeit, ihr Leben zu retten. Morsals Familie verlor auf der Flucht alles, was sie besaß, und musste sich schließlich allein und ohne Besitz in der Schweiz zurechtfinden. Als wir sie treffen, passt sie gerade auf ihren kleinen Bruder auf, sie entschuldigt sich vor dem Gespräch für das Geschrei im Hintergrund. Alleine mit ihr Sprechen können wir nicht, aufgrund ihrer Religion ist es ihr Wunsch, dass eine andere Frau anwesend ist.
Neuanfang
Als sie 2015 in die Schweiz gekommen ist, war das ein Schritt ins Ungewisse. Dennoch ist sie keineswegs eingeschüchtert, ganz im Gegenteil, wir treffen auf eine junge, selbstbewusste Frau. Sie wohnt allein in einem Studio und arbeitet fleissig an ihrer Ausbildung zur Fachangestellten Gesundheit. “Es ist unglaublich schön, FaGe ist mein Traumberuf. Ich mache es sehr gerne, wirklich sehr gerne”, sagt sie strahlend. In ihrer Freizeit spielt sie gerne Fußball beim FC Wyler. Wir sind beeindruckt von ihrer Liebe zu ihrem Beruf, das macht uns Hoffnung für unsere eigene Zukunft.
Es war unglaublich schmerzhaft, aber nicht schmerzhafter als das, was ich in Afghanistan erlebt habe
Zurückblickend erinnert sie sich an die knappen Vorräte, die sie und ihre Familie auf diesem Weg mit sich trugen: Nur dreimal haben sie in diesen zehn Tagen etwas zu essen bekommen, meist nur Brot mit Joghurt. Die Strapazen der Reise haben ihr alles abverlangt: “Ich bin barfuß gelaufen, weil meine Schuhe kaputt waren”, erzählt sie. Der steinige Boden der Berge war gnadenlos und hat ihre Füße blutig gerieben. Aber der Schmerz war für sie nichts im Vergleich zu dem, was sie in Afghanistan erlebt hatte.
In der Türkei angekommen, übernachtete die Familie in einem Hotel, das voller fremder Männer war. “Ich hatte Angst, ich hatte wirklich Angst”, sagt sie rückblickend. Es war nicht nur die allgemeine Unsicherheit, die sie beunruhigte. Morsal beschreibt, dass sie oft fremden Männern begegneten, die ihr unangenehm aufgefallen sind. “Das waren nicht normale Männer, die haben uns immer angeschaut und man hat gemerkt, dass sie in deine Nähe kommen wollen”, erzählt sie uns mit zitternder Stimme.
Die Situation eskalierte, als diese Männer sie sogar berührten. Morsal erinnert sich, wie sie schrie, weinte und sich wehrte, damit sie von ihr weggingen. Aber sie hatte nicht viel Macht, denn sie und ihre Familie waren in einem fremden Land und diese Männer hatten ihre eigenen Männer bei sich. “Das war ganz schwierig”, fügt sie hinzu, während sie die Erinnerungen an diese Zeit zu verarbeiten versucht.
Aber das war noch lange nicht das Ende ihrer Reise. In der folgenden Nacht wagten sie es, illegal mit einem Gummiboot von der Türkei nach Griechenland zu übersetzen. Stundenlang waren sie auf hoher See den unberechenbaren Wellen und Strömungen ausgesetzt. Doch endlich erreichten sie die Küste Griechenlands.
Es war die schlimmste Zeit meines Lebens
Dankbar erinnert sie sich an ihren Onkel, der ihnen Geld aus Afghanistan geschickt hatte. Dieses Geld ermöglichte es ihnen, über Grenzen in die Schweiz zu reisen, wo sie schließlich einen sicheren Hafen fanden. Heute, Jahre später, ist sie froh, in der Schweiz eine neue Heimat gefunden zu haben, aber die Erinnerungen an ihre Flucht werden sie ihr ganzes Leben lang begleiten. “Es war die schlimmste Zeit meines Lebens”, sagt sie. “Aber ich bin froh, dass wir es geschafft haben.”
Wenn sich die schwierige Situation verbessert, werde ich gehen
Doch auch wenn sie sich in der Schweiz wohl fühlt, denkt sie oft an ihr früheres Leben in Afghanistan zurück. Als sie in Erinnerung an ihre Heimat schwelgt, leuchten ihre Augen förmlich. “In Afghanistan haben meine Eltern die Verantwortung übernommen. Sie haben alles bezahlt. Sie haben für alles gesorgt, Essen, Kochen, Haushalt. Aber jetzt muss ich alles selbst machen”, erzählt sie. In Afghanistan war sie in der 9. Klasse und hätte noch vier Jahre zur Schule gehen müssen, um Lehrerin zu werden. Doch das Leben dort war auch von Einschränkungen und Gefahren geprägt. Als Mädchen musste sie immer ein Kopftuch tragen und durfte ab 19 Uhr nicht mehr allein auf die Straße gehen. Dennoch hegt Morsal keinen Groll gegen ihre alte Heimat. “Afghanistan hat für mich Vor- und Nachteile, die Schweiz hat für mich Vor- und Nachteile”, sagt sie. Sie hofft jedoch, dass sich die schwierige Situation in Afghanistan bald verbessert, besonders für Frauen und Mädchen. “Wenn es so bleibt mit den Taliban, dass Frauen nicht in die Schule gehen dürfen und alles machen müssen, was Männer sagen, werde ich nicht zurückkehren”, erklärt sie.
Trotz der schwierigen Vergangenheit und der ungewissen Zukunft behält Morsal ihren Optimismus und ihren Glauben an eine bessere Zukunft. “Ich habe viele Wünsche, aber am meisten wünsche ich mir, dass ich die Ausbildung als FaGe beenden und mich dann an der HF weiterbilden kann”, sagt sie. “Ich bin glücklich, hier zu sein und etwas für die Gesellschaft zu tun”.
Morsals Geschichte erinnert uns daran, dass hinter den Flüchtlingen, die in unseren Ländern ankommen, Menschen mit individuellen Geschichten, Träumen und Hoffnungen stehen. Es ist wichtig, ihre Erfahrungen anzuerkennen und ihnen die Unterstützung und Möglichkeiten zu geben, die sie brauchen, um ein neues Leben aufzubauen.